Bundesliga | Gert Adolphi | 20.01.2022

Jeder Erfolg ist ein neuer Ansporn

IM PORTRÄT | Alexander Semisorow hat auf nationaler Ebene bereits zehn Titel gesammelt. Jetzt strebt der Ringer des ASV Mainz 88 auch nach internationalem Lorbeer. Der 28-Jährige hofft auf die Nominierung für die Europameisterschaften – und damit auf die Chance, sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren.
Alexander Semisorow (l., gegen den Nackenheimer Lucas Günther) will auch international ringen.
Alexander Semisorow (l., gegen den Nackenheimer Lucas Günther) will auch international ringen. | Eva Willwacher

Mainz. Alexander Semisorow weiß, wie es sich anfühlt, Deutscher Mannschaftsmeister zu werden. Der Freistilringer gewann den Titel in der Saison 2015/16 mit dem ASV Nendingen, kam in der Endrunde allerdings nicht zum Einsatz. Mit dem ASV Mainz 88, zu dem er im vorigen Jahr gewechselt ist, nimmt der 28-Jährige in dieser Runde einen neuen Anlauf.

„Wenn uns die gleiche Mannschaft zur Verfügung steht wie in den zurückliegenden Wochen, wünsche ich mir das Finale“, sagt er, möchte über den Weg dorthin aber noch nicht spekulieren. Schließlich haben die 88er vorerst nur das Achtelfinale überstanden und noch schwere Gegner vor sich.

„Ich mache es wie in den Einzelwettbewerben: Ich denke immer von Kampf zu Kampf“, sagt Semisorow. „Jetzt müssen wir erst einmal Köllerbach schlagen und danach möglichst auch den Rückkampf gewinnen.“ Im Heimkampf gegen den KSV am Samstag ist der Nationalkaderathlet eine Option für das 75-Kilo-Limit, wahrscheinlicher aber ist sein Einsatz eine Woche darauf in der 71-Kilo-Klasse.

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Familiär nicht vorbelastet

In Russland geboren, kam Semisorow schon vor seiner Einschulung nach Deutschland. Anders als die meisten russischstämmigen Athleten brachte er die Begeisterung für den Kampfsport aber nicht aus der alten Heimat mit. „In meiner Familie hatte nie jemand etwas mit dem Ringen am Hut gehabt“, sagt er. „Zu diesem Sport bin ich im Grunde durch einen Umzug gekommen.“

Die Familie hatte sich zunächst in der Nähe von Freiburg niedergelassen, siedelte dann aber nach Rümmingen nahe der Schweizer Grenze um, weil seine Mutter dort eine Anstellung gefunden hatte. Im Ort hatte ein Ringertrainer ein Projekt ins Leben gerufen, um Jugendliche von der Straße zu holen. Als Elfjähriger, als Späteinsteiger, schloss sich Semisorow dieser Gruppe an.

Zuvor hatte er Fußball gespielt, war Torschützenkönig geworden und fungierte als Mannschaftskapitän. „Schon als Kind hatte ich den Drang, mich mit anderen zu messen. Ich wollte immer der Schnellste und Stärkste sein“, erzählt er. Auf der Matte konnte er diesen Ehrgeiz noch stärker ausleben. „Das Ringen hat mich viel mehr gepackt als andere Sportarten.“

Erste DM als Denkanstoß

Schnell zeigte sich, dass der junge Alexander Talent mitbrachte. Schon bald machte er beim RV Rümmingen Altersgenossen, die länger dabei waren, Konkurrenz; nach rund zwei Jahren bewies er sein Können bereits bei Bezirks- und südbadischen Landesmeisterschaften. Als Verbandsmeister qualifizierte er sich für die DM, schied aber frühzeitig aus.

Dass sein im südbadischen Finale unterlegener Gegner Deutscher Vizemeister wurde, „war für mich der erste Denkanstoß. Es konnte nicht sein, dass ich bei der DM nur Zehnter werde, er aber Zweiter wird. Ich wollte aufs Treppchen, wollte eine Medaille um den Hals, und dass mein Name aufgerufen wird“.

Mit dem dritten Platz im Jahr darauf erfüllte er sich diesen Wunsch, doch das weckte nur neue Begehrlichkeiten. Jetzt sollte es auch der Titel sein. Um diesem Ziel näherzukommen, wechselte Semisorow 2006 aufs Sportinternat nach Schifferstadt. Ein Jahr später verpasste er sein Ziel noch einmal knapp, belegte den zweiten Platz bei der DM und nahm dies als zusätzlichen Ansporn, noch mehr zu investieren.

Noch härter trainieren

2008 war es dann so weit: Semisorow wurde Deutscher B-Jugend-Meister. Es war sein erster von mittlerweile zehn nationalen Titeln, die Mannschaftsmeisterschaft mit dem ASV Nendingen eingeschlossen.

Wahrscheinlich lässt es sich erahnen: Satt ist Semisorow noch nicht. „Wenn du den internationalen Weg gehen willst, musst du noch härter trainieren“, riet ihm sein Rümminger Vereinstrainer Eduard Frick. Ein Titel auf der ganz großen Bühne fehlt dem 88er zwar noch, doch seinen Namen durfte er bei Siegerehrungen schon häufiger hören. In Europa wurde er 2010 Zweiter bei den Kadetten und 2016 Dritter in der U23, dazu kam der zweite Rang bei der Militär-WM 2018.

An drei Weltmeisterschaften, zwei davon bei den Männern, hat der 28-Jährige teilgenommen, sein achter Platz 2019 in Nur-Sultan reichte aber nicht zur Teilnahme an den Olympischen Spielen von Tokio, auch in den beiden weiteren Qualifikationsturnieren verpasste er das Ticket.

Kompletter Tapetenwechsel

Semisorows Wechsel nach Mainz hat auch etwas damit zu tun, dass sein olympischer Traum weiterlebt. Nach seiner Zeit in Nendingen trat er für den TuS Adelhausen an, der nur wenige Kilometer von Rümmingen entfernt beheimatet ist. Nach vier Jahren auf dem Dinkelberg wollte er aber aus dieser Komfortzone raus. „Als der neue Olympiazyklus begann, brauchte ich eine neue Herausforderung, einen neuen Verein, neue Leute, einen kompletten Tapetenwechsel“, sagt er.

Die 88er hatten schon jahrelang bei ihm nachgefragt, ASV-Cheftrainer Davyd Bichinashvili und Frick kennen einander schon lange und pflegen gute Kontakte. „Damit war klar, dass ich nach Mainz gehe.“

Obwohl der Sportler weiterhin im südbadischen Dreiländereck wohnt, hält sich der Aufwand für die Fahrten nach Mainz in Grenzen. Unter der Woche trainiert er bei der Sportfördergruppe der Bundeswehr in Heidelberg und bleibt dort eine Nacht länger, wenn sein Einsatz in der Bundesliga geplant ist. Freitags absolviert er mit der ASV-Mannschaft die Abschlusseinheit, auch an den Saisonvorbereitungswochenenden und dem Trainingslager in Tschechien hatte er teilgenommen.

Nach Stilartwechsel ungeschlagen

In der Hinrunde gewann Semisorow nur einen seiner vier Kämpfe im Weltergewicht, blieb dafür allerdings nach dem Stilartwechsel im 71-Kilo-Limit ungeschlagen. „Zwischen beiden Klassen besteht ein riesiger Unterschied, obwohl nur vier Kilo dazwischenliegen“, erläutert er. „Davyd hatte mir aber von Anfang an gesagt, dass er mich häufiger in 75 Kilo einsetzen will, erst in den Play-offs soll es dann eher in Richtung 71 Kilo gehen.“

Die Duelle mit schwereren und damit auch kräftigeren Gegnern sieht er als willkommenes Training, zumal vor der Saison kaum Turniere stattfanden, bei denen er sich Wettkampfpraxis hätte holen können. Und seine Entwicklung gibt ihm Recht. „Ich habe immer besser reingefunden. Von Kampf zu Kampf werde ich selbstbewusster.“

Davon zeugen seine beiden 3:0-Siege im Achtelfinale gegen Tim Stadelmann. Dass der Nürnberger mit minus zwei Ringerpunkten bewertet wird, er selbst aber drei Punkte kostet, lässt Semisorow nicht als Argument für einen Pflichtsieg gelten. „Tim ist fast einen Kopf größer als ich, er hat lange Arme und Beine. Er ist ein unangenehmer Gegner, der sich auch international schon bewiesen hat.“

Drei Deutsche für ein Ticket

Eigentlich sollte Semisorow den Mainzern am Samstag gar nicht zur Verfügung stehen, denn Bundestrainer Jürgen Scheibe hatte ihn für ein Turnier in Nizza gemeldet, das die Deutschen für eine internen Ausscheidung zur Nominierung für die im März anstehende Europameisterschaft nutzen wollten. Doch der Wettbewerb in Frankreich wurde abgesagt.

Die nationalen Konkurrenten des 88ers sind der Ex-Mainzer Niklas Dorn und der Freiburger Leon Gerstenberger. Dieses Trio kämpft um den Startplatz, der jedem Land bei Welt- und Europameisterschaften zusteht. Nur wer sich durchsetzt, kann auch auf eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris hoffen.

„Ohne überheblich klingen zu wollen, sehe ich mich ganz vorne“, sagt Semisorow. „Niklas war häufiger verletzt, und Leon ist noch ein U-23-Mann, ihm fehlt die Erfahrung.“ Die bisherigen Duelle mit Gerstenberger entschied er stets für sich. Dennoch bedauert der 28-Jährige, dass das Turnier in Nizza ausfällt; einen direkten Vergleich der drei deutschen Topleute hätte er begrüßt.

Kaum Prognosen möglich

Wer zur EM fährt, bleibt damit offen, der Weg nach Paris ist ohnehin noch lang. „Es wird definitiv hart, sich zu qualifizieren“, sagt Semisorow, prognostizieren lasse sich in der Beziehung nicht. Einerseits könnten starke junge Ringer aus anderen Nationen nachrücken, andererseits ist noch nicht bekannt, welche erfahrenen Recken sich von der internationalen Bühne zurückgezogen haben. Sein Ansatz ist deshalb klar: „Ich muss erst mal ein paar Turniere mitkämpfen und schauen, wo ich stehe.“

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