Peter H. Eisenhuth | 11.07.14 „Kein Verein ist auf schwule Profis vorbereitet“ Marcus Urban, einer der wenigen offen homosexuellen Ex-Fußballer, hat vor mehr als 20 Jahren seine Karriere wegen des unerträglichen Drucks beendet. Seitdem, sagt er, hat sich im deutschen Fußball nicht viel bewegt. Mainz. Der ehemalige Fußballer Marcus Urban ist am Samstag zu Gast beim „Streetkick unterm Regenbogen – Turnier gegen Homophobie“ des Mainzer Fanprojektes auf dem Gutenbergplatz. Von 13 Uhr an diskutiert er unter dem Titel „Leben in der Lüge“ mit der ehemaligen Fußballspielerin Tanja Walther-Ahrens (Turbine Potsdam) und Mainz-05-Geschäftsführer Dag Heydecker über Schwulenfeindlichkeit im Fußball. Mit SPORTAUSMAINZ.de sprach Urban im „Interview der Woche“ über Scheinfreundinnen, seinen Ausstieg aus dem Fußball, den Nachholbedarf der Klubs und Verbände im Kampf gegen Homophobie und das aufsehenerregende Coming out von Ex-Nationalspieler Thomas Hitzlsperger Anfang des Jahres. Herr Urban, Sie sind am Samstag einer der Teilnehmer des ersten Podiumsgesprächs beim „Streetkick unterm Regenbogen“. Wie viele Auftritte dieser Art haben Sie im Jahr? Oh, da muss ich nachdenken… Zehn, zwölf, fünfzehn? Relativ viele jedenfalls. Es ist eine Menge geworden, und ich hoffe, dass es noch zunimmt. Haben Sie im Laufe der Jahre Veränderungen bei den Diskussionsteilnehmern oder Zuhörern festgestellt, oder sind bei solchen Veranstaltungen ohnehin keine Schwulenhasser anwesend? In der Regel ist es so, dass die Leute, die zu den Veranstaltungen kommen, aufgeschlossen sind und nach Lösungen des Problems Homophobie suchen. Wir haben noch nicht so richtig diejenigen erreicht, die wir eigentlich erreichen wollen, die Wissen, Information oder Kontakt brauchen oder aber von Homophobie betroffen sind, also Schwierigkeiten mit dem Thema Homosexualität haben. Wie sieht es bei den Vereinen aus? Einige Vereine sind da etwas weiter als andere, die thematisieren solche Fragen. Aber insgesamt gibt es viel Nachholbedarf. Wirklich viel macht auf diesem Gebiet kein Verein. Weltweit. Viele Unternehmen sind da deutlich weiter. Was die „Corporate Social Responsibility“ angeht, die „Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung“, ist unter den deutschen Vereinen Werder Bremen am weitesten; Mainz 05 platziert sich unter den Bundesligisten auch eher vorne, aber kein Verein hat zum Thema sexuelle Ausrichtung ein ausreichendes Niveau. Kein Verein und kein Verband ist auf ein eventuelles Coming out eines Profis vorbereitet. Viele Vereine habe die Berliner Erklärung gegen Homophobie unterschrieben, aber passiert ist eigentlich nichts. Nicht mal bei einem Klub wie dem politisch links verorteten FC St. Pauli, der obendrein in Corny Littmann eine schwulen Präsidenten hatte? Die Vereine gehen insgesamt kleine Schritte. Beim FC St. Pauli sind sicher mehr Veranstaltungen gelaufen als anderswo, aber es gibt auch dort keine entsprechende Bildungsarbeit. Das Thema taucht in der Jugendarbeit nicht auf, es wird nicht in den Mannschaften thematisiert, es finden keine Lesungen statt. Es fehlen wirksame Schritte, echte Bemühungen, die es einem schwulen Fußballer möglich machen würden, sich zu outen. Sie standen selbst Anfang der 90er-Jahre auf dem Sprung in den bezahlten Fußball, haben ihre Karriere aber beendet. Mit welchen Konsequenzen hätten Sie im Falle eines Outings rechnen müssen? Mit Demütigungen, vielleicht sogar mit körperlicher Gewalt, mit Ausschluss. Ich bin sicher, dass der Verein mich rausgeworfen hätte, wenn auch unter anderen Vorwänden. Sicher? Ja. Ich habe mich später mit meinem ehemaligen Trainer und Mitspielern unterhalten. Sie haben bestätigt, dass sie nicht gewusst hätten, was sie mit einem Schwulen im Team hätten anfangen sollen, sie waren damals in dieser Hinsicht rückständig, ungebildet. Aber ich muss da gar nicht mit dem Finger auf andere zeigen: Ich selbst habe andere auch als schwule Sau beschimpft. Um nicht aufzufallen? Nicht nur. Das war auch gegen mich selbst gerichtet. Ich wollte noch härter wirken als andere, ich wollte, im herkömmlichen Sinn, ein richtiger Mann sein. Ich stand unter größere Spannung als andere und habe auch deutlich mehr Gelbe und Rote Karten gesammelt. Und wenn Sie zuhause waren? Ich war nicht zuhause, ich habe 24 Stunden am Tag im Sportinternat verbracht. Dabei war es schon stressig genug, mit der Mannschaft zusammen zu sein. Ich habe den Gedanken nicht zugelassen, eventuell schwul sein zu können. Ich habe es zwar gespürt, aber ich wollte es nicht wissen. Ich war auf dem Weg, aber auf diesem Weg braucht man einige Zeit. Man muss sich selbst klar sein, schließlich geht man ja das Risiko ein, offen gedemütigt zu werden. Das passiert mir heute noch in Berlin, wenn ich mit meinem Freund Hand in Hand durch die Stadt gehe. Ich habe mich damals bemüht, jede Gestik, jede Mimik zu kontrollieren, jedes Wort zu prüfen, das rausging. Ich habe mich von vorne bis hinten kontrolliert, um nicht schwul zu wirken. Das hat unglaublich viel Energie gekostet, und diese Kraft fehlte mir für mein Leben und den Fußball. Ich brannte immer mehr aus, hatte Scheinfreundinnen, um dazuzugehören, um zu probieren, ob nicht doch hetero sein könnte. Nach außen hin kam das toll an: „Super, der Schneider“ – ich hieß damals noch Schneider – „hat eine Freundin“. Aber innerlich habe ich gebrannt. Ist das nach dem Ausstieg aus dem Fußball besser geworden? Erst einmal bin ich in ein Loch gefallen, ich war recht depressiv. Mein Lebenstraum war plötzlich zerstört, außerdem hatten wir nach dem Ende der DDR ein neues Gesellschaftssystem. Ich war ziemlich verzweifelt, ich wusste nicht, wo ich hinsollte. Ein Studium oder eine Lehre zu beginnen, das erschien mir gegen meine bisherigen Ziele – Bundesliga und Nationalmannschaft – alles pillepalle. Ich habe dann ein Studium begonnen, aber an der Uni war ich für die anderen nur der Fußballer, der studiert… Neue Ziele habe ich gefunden, indem ich eine Weile nach Italien gegangen bin, ich habe neue Welten und neue Kulturen entdeckt. Und ich habe mich selbst besser kennengelernt und in diesem Rahmen auch meine sexuelle Orientierung gefunden. Bei der ersten Gelegenheit habe ich gemerkt: Ich bin glücklich. Und dann? Nach meiner ersten Nacht mit einem Mann bin ich freudestrahlend in die Stadt gegangen und habe es sofort meinen Freunden erzählt. Ich hatte so lange gelitten, ich hatte meine große Leidenschaft aufgegeben, um etwas ganz Banales zu finden: meine sexuelle Orientierung. Als Schwuler muss man sich seine Identität leider erkämpfen. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich in die Gesellschaft integriert war und den Mut hatte, mich öffentlich hinzustellen und vor fremden Leuten über mein Schwulsein zu sprechen. Anfangs habe ich mich nicht getraut, einem oder zwei Menschen etwas zu sagen, und heute sitze ich in Fernseh-Talkshows. Öffentlich gemacht haben Sie Ihre Homosexualität erst 2007. War es bis dahin immer noch ein Versteckspiel? Na ja, mein persönliches Outing hatte ich 1994. Als ich mich damals in Weimar entdeckt hatte, habe ich zunächst versucht, im persönlichen Umfeld Normalität zu entwickeln. Manchmal habe ich es sicher etwas übertrieben. Es gab Phasen, in denen ich bisschen feminin drauf war, fast schon tuckig. Es war allerdings auch nicht so einfach, als Fußballer in der Homosexuellenszene zu bestehen. „Um Gottes Willen, schwul und Fußballergrobian. Was bist du denn für einer?“ – das war schon eine häufige Reaktion. Heute gibt es immer mehr homosexuelle Fußballfans; eine gute Entwicklung, denke ich. Mein öffentliches Coming out sehe ich eher so, dass die Medien sich bei mir dahingehend geoutet haben, dass sie reif für das Thema sind. Hat sich seit damals Einstellung in der Fußballwelt gegenüber Homosexuellen geändert? Punktuell hat es sich normalisiert. Aber nehmen Sie mal die Weltmeisterschaft: Man kann sich ausrechnen, wie viele der Stars dort schwul sind, aber alle müssen den Mund halten. Und die mexikanischen Fans dürfen bei jedem Abstoß des Torwart „Puta“ schreien, „Schwuchtel“, ohne dass irgendetwas passiert. Das ist ein Skandal. Würde ein solches Verhalten im deutschen Fußball sanktioniert? Inwiefern? Indem die Vereine stellvertretend für ihre Fans bestraft würde. So, wie es beispielweise beim Einsatz von Pyrotechnik geschieht. Nein, da wird nichts sanktioniert. Dabei gibt es auch in Deutschland genügend Vorfälle. Vor drei Jahren zum Beispiel haben Fans von Eintracht Trier im Spiel gegen den FC Homburg ein Plakat mit der Aufschrift „HOMo-Fotzen“ aufgehängt. Wir haben den Verein hinterher kontaktiert, aber da hat sich niemand verantwortlich gesehen. Täuscht der Eindruck, dass der Fußball im Umgang mit Homosexualität anderen gesellschaftlichen Bereichen hinterherhinkt? Welchen? Kunst, Kultur, sogar Politik. Hm, punktuell hat es sich normalisiert, aber letztlich entsteht doch nur der Eindruck, wenn man die offen Homosexuellen im Fernsehen sieht. Aber gehen Sie mal in Mainz mit einem Mann Hand in Hand über die Straße: Sie werden mindestens das Getuschel und die Blicke bemerken, vielleicht auch offene Anfeindungen. Nein, es gibt keinen Bereich, der wirklich offen ist, in dem Homosexuelle keine Angst haben müssen, sich zu outen: Manager, Künstler, Schauspieler verstecken sich, über Militär und Kirche müssen wir gar nicht reden. Lesbische Schriftstellerinnen verstecken sich. Der Weg zu Gleichheit und Akzeptanz ist noch weit, und wir gehen ihn in kleinen Kinderschuhen. Und falls jemand wirklich meinen sollte, Homophobie sei in Deutschland kein Thema mehr, sollte er sich im Internet mal den „Panorama“-Beitrag über „Schwulenheiler“ anschauen… …Schwulenheiler? Ärzte, die Schwule therapieren wollen und das auch noch über Krankenkasse abrechnen. Ärzte, die als Ursache für Homosexualität einen Leberschaden bei der Mutter für möglich halten. Das sind Zustände wie im Spätmittelalter. Thomas Hitzlsperger hat Anfang des Jahres für großes Aufsehen gesorgt. Er war der erste Ex-Profi, der sich als schwul outete. Bedauern Sie das Ex? Nein. Das war ganz toller Schritt. Das ist die nächste Stufe, die wir erreicht haben, zu der wir mit unserer Sensibilisierungsarbeit beigetragen haben: dass es ein prominenter Fußballer schafft, aus eigenem Antrieb und eigenem Herzen heraus ein Coming out zu betreiben. Das war sicher kein leichter Schritt für ihn – ich finde, er hat ihn mit Bravour gemacht. Was wird Ihr nächster Schritt sein? Wir haben in Berlin den „Verein für Vielfalt in Sport und Gesellschaft“ gegründet und als erstes Projekt ein Beratungsnetzwerk aufgebaut. Wir sind bisher in zehn Bundesländern aktiv und wollen das Netzwerk flächendeckend ausbauen. Es ist das weltweit erste Netzwerk zum Thema Homosexualität/Homophobie/Extremismus. Für viel Furore sorgen wird ein Projekt, das wir Mitte/Ende Juli bekanntgeben. Man wird davon hören. Klingt spannend. Wird es auch sein. Aber mehr kann ich noch nicht verraten. Statistisch betrachtet, stehen in jedem Bundesligakader ein bis zwei Homosexuelle. Kommt das hin? Ich glaube, schon. Manchmal sind es auch vier oder fünf, manchmal ist es zufällig keiner, aber dafür ist es dann der Physio oder jemand aus dem Management. Und man darf ja auch die Fans nicht vergessen – das sind Tausende… Leben diese Spieler alle ein Doppelleben, oder sind bisweilen Mitspieler informiert? In einigen Fällen ist schon das Vertrauen da, es dem ein oder anderen Mitspieler zu sagen. Oder das Umfeld weiß es, oder die beste Freundin spielt mit. Es gibt auch Agenturen, die Scheinehen organisieren. Aber letztlich lebt man wie in einer Parallelwelt: Mit der Familie wohnt man in der einen Stadt, und der Freund wohnt in der anderen Stadt. Dann geht man erst nach 22 Uhr aus, man trifft sich im Dunkeln, mit Käppi anonymisiert. Man kann sich vielleicht vorstellen, wie erfinderisch man wird. Aber ein Spaß ist das nicht. Wäre Hitzlspergers Outing nicht ein guter Zeitpunkt auch für aktive Fußballer gewesen, ihre Homosexualität öffentlich zu machen? Wann ist ein guter Zeitpunkt, um endlich zu sich selbst zu stehen? Immer. Es ist wirklich schwierig, einen solchen Schritt zu machen, ich habe dafür auch Verständnis. Aber mit welcher Begründung sollen Leute ihre Persönlichkeit an den Nagel hängen und verbergen, wer sie sind? Wenn sich Schwerverbrecher so verhalten – okay. Aber doch nicht wegen der sexuellen Ausrichtung. Dieser Zustand ist albern und unerträglich. Ich versuche selbst, mit gutem Beispiel voranzugehen, ich habe diesen Weg gewählt, weil es mir offenbar wichtiger war, zu mir zu stehen, als eine Karriere in der Nationalmannschaft als menschliches Wrack zu machen. Ich wünsche mir, dass Profis, dass auch aktuelle Nationalspieler dazu stehen, schwul zu sein. Damit wären sie in punkto Aufrichtigkeit und Authentizität auch ein Vorbild für Kinder und Jugendliche. Aber vor allem sollten sie es für sich selbst tun. Immerhin hat das Outing Thomas Hitzlsperger nicht geschadet. Abgesehen davon, dass er sich jetzt deutlich besser fühlen dürfte… …davon können Sie ausgehen… …hat er zur WM im ZDF-Morgenmagazin Toni Schumacher als Fußballexperten abgelöst. Gottseidank, möchte ich sagen. Haha, das stimmt. Er macht das auch hervorragend, er kann sehr gut reden, er ist ein toller Experte. Und ihm macht das Spaß. Und manchmal kommt sogar eine Frage zum Thema Homosexualität im Fußball... Das Gespräch führte Peter H. Eisenhuth. 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