Kalenderblätter | Christian Karn | 05.08.2020

Alle 214 Minuten eine Gelbe Karte

Aus besonderem Anlass noch ein 05-Kalenderblatt* für den 5. August.
Teilte aus, konnte aber auch einstecken: Milorad Pekovic.
Teilte aus, konnte aber auch einstecken: Milorad Pekovic. | Bernd Eßling

Mainz. Vor 15 Jahren verpflichtete der FSV Mainz 05 für seine zweite Bundesligasaison einen bereits fast 28-jährigen Mittelfeldspieler von einem Zweitligaabsteiger und zunächst wusste niemand so recht, was das werden sollte. Zehn Jahre später beendete dieser Mann seine Profikarriere als einer der angesehensten Spieler in der jüngeren Vergangenheit der 05er. Heute wird Milorad Pekovic 43 Jahre alt.

Aus der Distanz gesehen bleibt Pekovic aus zwei Gründen in Erinnerung. Erstens: viele Gelbe Karten. In Mainz waren es 48 in 138 Spielen in den beiden Bundesligen, im DFB- und im Europapokal, das ist (Ein- und Auswechslungen einkalkuliert) im Schnitt eine Karte alle 214 Minuten. Allerdings: nie ein Platzverweis. Jedenfalls kein berechtigter. Dominic Peitz, damals noch beim VfL Osnabrück und in den vergangenen beiden Spielzeiten für die Mainzer U23 aktiv, hing Pekovic einst eine Rote Karte an, weil der ihm ins Gesicht geschlagen habe. Im Fernsehen sah es ein bisschen anders aus, und der Fußballgott musste die Zeitlupen gekannt haben, denn im Rückrundenspiel sah Peitz selbst eine wesentlich eindeutigere Rote Karte für eine grundsätzlich schon sehr starke Parade im Tor, die er sich als Feldspieler halt besser verkniffen hätte.

Milorad Pekovic war kein Edeltechniker. Ihn als Mann fürs Grobe zu bezeichnen, wäre jedoch zu oberflächlich. Der Montenegriner war ein harter Kämpfer im Mittelfeld, ein Zweikämpfer, einer, der keine Angst hatte vor Fouls. Aber einer, von dem man nie Gemeinheiten sah. Pekovic war der ehrliche Treter. Er kam von vorne, er kam mit Voranmeldung. Er holte sich die Gelbe Karte ohne Widerworte ab, und er kannte die Grenze.

Rekord in der WM-Qualifikation

Mike Büskens wusste das nicht: Beim Debüt für die SpVgg Greuther Fürth nach seinem Abschied von den 05ern sah Pekovic am Bornheimer Hang schon nach 5:10 Minuten Gelb. Büskens wurde nervös, wechselte seinen Neuzugang nach nicht mal einer halben Stunde sicherheitshalber aus. Das Häuflein Mainzer auf der Tribüne hätte dem Fürther Trainer sagen können: Bleib ruhig, lass ihn weiterspielen. Der kann das dosieren, der hält durch bis zum Abpfiff.

In der Qualifikation zur WM 2010 stellte Pekovic einen Rekord auf: Zehn Spiele bestritt Montenegro in dieser Ausscheidungsrunde, sieben davon mit Pekovic. In den anderen war der Abräumer gesperrt. Das ging so: Gelb, Gelb, Sperre. Gelb, Gelb, Sperre. Gelb, Gelb, Sperre. Und noch einmal Gelb. Das Problem sei bekannt, erzählte er der Delegation des 05-Fanzines „Die TORToUR“ in einem Fünf-Sterne-Wintergarten vor den Toren Dublins, wenige Stunden vor der letzten dieser sieben Verwarnungen. „Pekovic, heute ohne Gelbe Karte“, fordere der Nationaltrainer inzwischen vor dem Anpfiff. „Versuch es wenigstens!“

Der zweite Grund, warum man sich an Pekovic erinnert, war sein Torjubel. Nicht nach eigenen Toren. Die gab es nicht oft. Fasziniert denkt man zurück an ein Testspiel in Bischofsheim vor 13 Jahren, als der Mittelfeldmann beim Stand von ungefähr 12:0 beschloss: Heute treffe ich. Und Pekovic zog los, erreichte den Strafraum und verlief sich. Es sah ein bisschen aus wie das berühmte Tor von Jay-Jay Okocha gegen Oliver Kahn und diverse Verteidiger, jedoch ohne Abschluss: Pekovic spielte Kringel kreuz und quer durch den Sechzehner, wusste am Ende nicht mehr, wo der Kasten überhaupt steht, und lief mitsamt Ball im Toraus. Zweimal. Beim dritten Versuch klappte es: Pekovic schoss das 18:0, das erste seiner vier Tore für die 05er.

Größter Fan der eigenen Mannschaft

Das zweite, wenige Wochen später im Pokal in Worms, war Zufall, ein brachialer und kapital abgefälschter Freistoß. Das dritte im Zweitligaspiel gegen den FC Augsburg schon etwas geplanter, wieder ein gewaltiger Freistoß. Das vierte und letzte im Pokal gegen den 1. FC Köln. Pekovic lief vor dem Strafraum quer von rechts nach links, zog auf einmal aus der Drehung mit seinem linken Fuß ab. Und zack. Ein Traumtor zum 3:1-Endstand.

Aber zurück zum Torjubel. Pekovic war, wie etwas später Anthony Ujah, immer der größte Fan seiner eigenen Mannschaft. Nahezu jeder Mainzer Torschütze in jenen 138 Spielen hatte augenblicklich einen euphorischen Montenegriner auf dem Buckel. Das gefiel Pekovic, der einmal sagte, wie wichtig ihm die emotionale Bindung sei: „Ich spiele nicht nur für mein Gehalt. Wenn man ein Mensch ist und wenn man in einer guten Umgebung ist, dann entwickelt man einfach Gefühle für seinen Verein. Ich wechsle nicht einfach so die Umgebung, die Leute. Das mache ich nicht gerne.“

Und dennoch musste Pekovic Ende Januar 2010, nach viereinhalb Jahren in Mainz, die 05er verlassen. Aber was heißt „musste“? Thomas Tuchels Vorstellungen und Pekovic‘ Fähigkeiten passten nicht zusammen, viel mehr als gelegentliche Einwechslungen waren nicht mehr drin. Christian Heidel hätte die wichtige Integrationsfigur liebend gerne gehalten, aber Pekovic wollte spielen. Und konnte das in Fürth, wo man sich an das vorentscheidende Aufstiegsspiel ein gutes halbes Jahr zuvor nur zu gut erinnerte; am Ronhof hatte der Montenegriner möglicherweise sein größtes Spiel im 05-Trikot gemacht. Für Thomas Tuchels Akzeptanz war das zunächst nicht hilfreich.

Sanftmütig und großzügig

Und da gibt es noch einen dritten Aspekt bei Milorad Pekovic. Einen weniger offensichtlichen, den man nur aus der Nähe sah, nicht im Fernsehen und auch nicht von der Tribüne aus. Das war der sanftmütige Peko, ein hochanständiger, freundlicher, großzügiger Mensch, jederzeit ansprechbar, einer, der nicht groß hofiert werden musste, der seinen Fans nicht nur Länderspielkarten besorgte, wenn sie ihn danach fragten, sondern sie bei der Gelegenheit direkt ins Mannschaftshotel zum Kaffee mit der ganzen Nationalmannschaft einlud, der sich Zeit für Plaudereien auf Augenhöhe nahm. Der sich ansonsten mehr für Pferde interessierte als für schnelle Autos. Und der Ende Januar 2010, drei Tage nach seinem Wechsel von Mainz nach Fürth, am Bornheimer Hang versprach: „Ich komme oft nach Mainz. Wir sehen uns wieder.“

Einmal noch kam Pekovic als Fußballprofi nach Mainz. Fürth gewann 1:0. Und Pekovic sah Gelb. Nach 480 Ligaspielen für OFK und Partizan Belgrad, für Eintracht Trier, Mainz 05, die SpVgg Greuther Fürth, Hansa Rostock und noch einmal Trier beendete er seine 21 Jahre dauernde Profikarriere. Ob er sich auch als Zuschauer Fußballspiele im Stadion ansehen könnte, das wisse er nicht, hatte er mal gesagt. Wenn ja, wäre er sicherlich bei vielen willkommen.

*Mit freundlicher Genehmigung von Jörg Schneider (nullfünf-Mixed-Zone).

 

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