Bundesliga | Peter H. Eisenhuth | 30.07.2021

„Heute fahr' ich schnell, gestern ging ich noch zu Fuß“

Zwischen „Bronx“ und linker Außenbahn: Anderson Lucoqui, Neuzugang des FSV Mainz 05, über seine fußballerische Karriere, überwundene Widerstände, unbezahlbares Klavierspiel, sein Alter Ego Luco und die Metaphern in seinen Liedern.
Auf der Überholspur: Seinen Traum vom Profifußall hat Anderson Lucoqui (r.) sich erfüllt. In Mainz will er zu einem kompletteren Spieler werden und die linke Außenbahn beackern.
Auf der Überholspur: Seinen Traum vom Profifußall hat Anderson Lucoqui (r.) sich erfüllt. In Mainz will er zu einem kompletteren Spieler werden und die linke Außenbahn beackern. | Peter H. Eisenhuth

Herr Lucoqui, das ist das erste Mal in meinem Leben als Sportjournalist, dass ich mich auf ein Interview mit Musikvideos auf YouTube vorbereitet habe. Die sind nicht schlecht…

…danke.

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Die Frage, die sich mir danach stellt, lautet: Wie viele Jahre brauchen Sie noch bis zum Millionär?

(lacht) Worin?

Ich zitiere: „Gebt mir zehn Jahre, und ich werd‘ Millionär…“

Ach so. Das ist ein bisschen an die fußballerische Laufbahn angelehnt. Eine Karriere dauert durchschnittlich ja mehr oder weniger zehn Jahre, und wenn sie halbwegs erfolgreich ist, kommt man ja in diese Sphären rein, und das wollte ich anschneiden. Wenn man sich den Text weiter anhört und mit der fußballerischen Schiene vergleicht, kann man das, glaube ich, auch ganz gut verstehen.

Zur fußballerischen Schiene passt auch der Satz: „Zu viele wollten mich stoppen, doch ich bin immer entkommen“ – linke Außenbahn, oder was?

Unter anderem. Das ist spielerisch gemeint, blickt aber auch generell auf die Karriere. Das war bei mir nicht so ganz einfach. Ich habe nicht immer alles hingelegt bekommen, sondern musste immer wieder mit Rückschlägen kämpfen. Viele waren gegen mich und wollten mich stoppen, ob auf dem Platz oder neben dem Platz. Aber ich bin meinen Weg immer weitergegangen, sonst wäre ich zum Beispiel jetzt nicht hier.

Inwiefern neben dem Platz? Welche Widerstände gab es da?

Zum Beispiel, dass man einfach nicht aufgestellt wird, weil der Trainer eine andere Sichtweise hat als man selbst, dass man nicht die verdiente Chance bekommt oder was auch immer. Das sind alles Rückschläge, die einen in der Karriere bremsen, aber es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Und ich hab‘ halt nie zurückgesteckt, sondern immer weiter fokussiert nach vorne gearbeitet. So war‘s in Düsseldorf, so war‘s in Bielefeld, und so wird‘s auch immer bleiben.

In allen Statistiken steht, dass sie bis 2011 bei Bayer Leverkusen gespielt haben. Das heißt, wenn Sie in Zweibrücken geboren wurden und die Familie immer da gewohnt hat, müssten Sie mit elf, zwölf Jahren ins Internat gegangen sein…

Nee, als ich vier Jahre alt war, sind wir nach Leverkusen gezogen. Meine Patentante, meine Cousins und andere Verwandte sind in Zweibrücken geblieben. Aber wir haben in Leverkusen gewohnt, und deshalb musste ich auch nicht ins Internat.

Dann ergibt auch der Satz „Ich war in der Bronx“ eher einen Sinn als im pfälzischen Zweibrücken. Ich war schon ein bisschen erschüttert…

(lacht) Das war eher metaphorisch gemeint. Auch in Filmen ist es so, dass wenn einer sagt, er komme aus der Bronx, steht das für eine Siedlung, in der es, sag ich mal, nicht einfach war. „Bronx“ ist der Überbegriff, und so war es auch für mich. Es war damals schon schwierig. „Ich komm‘ aus der Bronx, hab meinen Kampf schon gewonnen“ – das heißt, ich bin trotz der Widerstände, auf die ich gestoßen bin, da rausgekommen. Das war sicher nicht so krass wie bei anderen, aber ich hatte trotzdem in der Jugend mit ein paar Sachen zu kämpfen.

Wegen sozialer Standards oder Ihrer Hautfarbe?

Ich hatte das Glück, dass ich wegen meiner Hautfarbe kaum Probleme hatte. Bei ein, zwei Fußballspielen bin ich beleidigt worden – traurigerweise scheint das aber heutzutage irgendwie normal geworden zu sein. Damit muss man umgehen können. Bei mir waren es eher die Siedlung und das Umfeld. Das war nicht immer ganz so einwandfrei. Aber meine Eltern haben das sehr gut hinbekommen, dass ich als kleiner Junge nicht mit den falschen Leuten in Kontakt gekommen bin. Wenn ich meinen Weg mit denen vergleiche, die viele aus meinem damaligen Umfeld eingeschlagen habe, kann ich mich glücklich schätzen. Ein paar sind auf die schiefe Bahn geraten, ein paar wissen nicht, was sie in der Zukunft machen sollen. Ich bin sehr froh, dass ich fokussiert geblieben bin. Irgendwann wird man 16, 17, dann bekommen andere Sachen Priorität, und dass ich da den Fokus nicht verloren habe, das verdanke ich meinen Eltern.

Sie haben einen sehr bürgerlichen Weg eingeschlagen und neben dem Fußball auch das Abitur gemacht. Ein gutes Abitur?

Ja. Es wäre noch ein bisschen besser gewesen, wenn ich etwas mehr Zeit investiert hätte. Aber der Fußball hatte Priorität. Trotzdem hatte ich mit meinen Eltern besprochen, dass ich Abitur mache, weil, man will’s nicht hoffen, aber im Fußball kann es ja schnell in beide Richtungen gehen. Und falls es mit der Karriere nichts wird, ist das Abitur eine gute Basis.

Sind Ihre Eltern auch schon in Deutschland geboren oder aus Angola eingewandert?

Sie sind aus Angola gekommen, als meine große Schwester und ich noch nicht auf der Welt waren.

Ihre doppelte Staatsbürgerschaft hat Ihnen die Möglichkeit eröffnet, angolanischer Nationalspieler zu werden.

Das war eine schöne Erfahrung, aber ich bin zum Glück nicht festgespielt. Ich habe ein Freundschaftsspiel für Angola gemacht, um zu wissen, wie das ist. Im Fußball kann alles ganz schnell gehen, und wenn irgendwann ein Anruf vom deutschen Bundestrainer käme, wäre ich der Letzte, der nein sagt. Ich bin in Deutschland geboren, hier aufgewachsen und fühle mich mit Deutschland verbunden. Mal sehen, wie sich die Sache in Zukunft so entwickelt.

Haben Sie sonst noch einen Bezug zu Angola? Leben dort noch Verwandte?

Verwandte, ja, meine Eltern besuchen sie auch ab und zu. Ich war selbst leider noch nicht dort, habe mir aber fest vorgenommen, irgendwann, wenn es zeitlich passt, auch mal nach Angola zu fliegen, um zu sehen, wie meine Eltern aufgewachsen sind.

Ihr fußballerischer Weg führte von Leverkusen über Köln nach Düsseldorf, wo Ihnen der Einstieg ins Profigeschäft gelang. Lief es von da an runder, oder gab es weiterhin Widerstände?

Eigentlich lief es nie perfekt bei mir, was ich aber gar nicht so schlimm finde, weil ich dadurch persönlich gewachsen und mental stärker geworden bin, weil ich weiß, wie man mit Rückschlägen umzugehen hat. Es gab immer wieder kleinere oder größere Rückschläge, mal habe ich nicht gespielt, mal hatte ich irgendwelche Probleme mit dem Trainer, aber es hat sich immer am Ende ins Gute gekehrt. Darauf kam es an: Immer, wenn es super wichtig war, war ich da.

Waren die Probleme mit den Trainern fachlicher Art, oder waren es eher persönliche Konflikte?

Ich bin kein Fan davon, den Blick zu sehr in die Vergangenheit zu richten. Ich war damals sehr jung und habe noch nicht alles verstanden. Ich habe versucht, auf dem Platz alles zu bringen, was verlangt wurde. Ich habe auch viele Gespräche gesucht, um herauszufinden, was ich besser machen kann. Aber damals habe ich anscheinend das Profigeschäft noch nicht so ganz verstanden. Ich habe mich immer nur aufs Fußballerische verlassen und gehofft, dass irgendwann meine Zeit kommt und ich eingesetzt werde. So war‘s in Düsseldorf halt nicht. Deshalb bin ich einen anderen Weg gegangen, der sich als richtig erwiesen hat. Aus diesem Grund mache ich mir auch keine Gedanken über Probleme aus der Vergangenheit. Darüber nachzudenken kostet nur Kraft und Zeit.

Haben Sie so etwas wie eine Karriereplanung, oder gucken Sie einfach, wie es kommt?

Ich glaube, jeder Fußballer hat irgendein großes Ziel und einen Traumverein; bei mir ist es zum Beispiel der FC Chelsea. Von so etwas träumt man schon als kleiner Junge. Je älter man wird, desto realistischer wird man, und ich nun schon so realistisch, dass ich sage, ich möchte jeden Tag und in jedem Spiel alles geben – und wenn es wirklich passt und reicht, dann kommt man immer aufs nächste Level. Wer weiß, wo es am Ende hingeht. Deshalb sage ich nicht, dass ich zu einem bestimmten Verein kommen, sondern alles investieren muss, um nach meiner Karriere zufrieden Bilanz ziehen zu können. Entweder hat es dann gereicht oder nicht, aber ich will mir niemals vorwerfen müssen, dass es nicht gereicht hat, weil ich nicht alles gegeben habe.

Jetzt sind Sie erst mal bei Mainz 05. Wie sehen Sie den Verein, und wie nehmen Sie das Umfeld wahr?

Für mich ist es eine riesige Chance, jedem zu beweisen, was ich drauf habe. Ich find‘s super, dass es geklappt hat. Es hat sich gut angefühlt, dass der Verein sich so um mich bemüht hat. Der Verein ist super familiär, ich wurde sofort super aufgenommen. Die Trainer reden mit mir, die Mitspieler reden mit mir, beim Hoffest in Schornsheim hatte ich den ersten Kontakt mit den Fans, die mich sehr herzlich aufgenommen haben. Ich fühle mich wohl und will hier meine Arbeit tun, meinen Teil zu einer erfolgreichen Saison beitragen.

Es gibt im Moment zwei Spieler, die möglicherweise denselben Job machen wollen wie Sie: Aarón und Jonathan Meier. Wie schärten Sie die Konkurrenzsituation ein?

Es ist ja normal, dass man Konkurrenz auf seiner Position hat. Ich werde alles geben und mich dem Trainer maximal anbieten – und hoffe, dass das wahrgenommen wird und reicht, um in der Startelf zu stehen. Ich werde alles geben, um am ersten Spieltag oder schon im DFB-Pokal dabei zu sein.

Welche Stärken können Sie einbringen?

Ich würde sagen, dass ich viel Mentalität habe. Puschen, immer wieder Gas geben, die defensiven Zweikämpfe zu gewinnen, mich auch offensiv einzubringen, die linke Seite einfach komplett zu beackern, um von dort den Jungs unter die Arme zu greifen und sie zu unterstützen.

Und was sind die Schwächen, an denen Sie arbeiten müssen?

Ich kann in allen Bereichen dazulernen, weil ich kein perfekter Spieler bin; das ist bei anderen nicht anders. Ich versuche mich überall zu verbessern. Ich will über das Training zu einem kompletteren Spieler werden.

Waren Sie als Jugendlicher beim FC Köln in einem Nachwuchsleistungszentrum, oder haben Sie weiterhin zu Hause in Leverkusen gewohnt und sind gependelt?

Letzteres. Deswegen war es auch schwierig, für die Schule zu lernen, weil ich immer nach der neunten Stunde mit dem Bus nach Köln oder Düsseldorf gefahren bin. Danach hat die Zeit immer gerade noch für die Hausaufhaben gereicht, aber leider nicht für mehr.

Dafür haben Sie vom realen Leben noch ein bisschen mehr mitbekommen als die Jungs, die im NLZ sitzen.

Das stimmt natürlich. (lacht)

Wenn Sie kein Profi geworden wären, hätten Sie nach dem Abitur studiert. Als mögliche Studiengänge kamen Architektur, Sportmanagement und Musik infrage. Wie kam dieses breite Interessenspektrum zustande?

Das hat sich, seit ich jung bin, so aufgefächert, weil ich ein Mensch bin, der es liebt, neue Sachen zu versuchen. Ich interessiere mich halt für viele Dinge, viele kreative Sachen, und ich bin ein Fan davon, von allem ein bisschen was zu machen, um am Ende des Lebens zu sagen, dass ich ein wunderschönes Leben hatte und alles ausgeübt habe, was ich mir jemals vorgestellt habe. Und wenn man dazu in der Lage ist, sollte man es auch tun, um das Leben zu genießen. Architektur, Kunst, Sport, Musik, Film: All das interessiert mich sehr, und mit der Zeit will ich überall mal meine Finger im Spiel gehabt haben (macht eine Klavierspielergeste). Natürlich hat alles seine Zeit – momentan gilt der volle Fokus dem Fußball.

Da Sie gerade die Handbewegung machen: Wie weit sind Sie mit dem Klavierlernen?

Ich hab‘s leider im Trainingslager nicht dabei, aber ich guck mir oft YouTube-Videos von Stücken an, die ich lernen möchte.

Sie haben ein kleines, transportables E-Piano?

Genau, aber wenn ich mich in meiner Wohnung eingerichtet habe, will ich mir ein größeres holen. Mich beruhigt das, wenn ich nach einem anstrengenden Tag abends nach Hause komme und dann einfach Klavier spielen kann. Das finde ich unbezahlbar und deswegen werde ich meine freie Zeit nutzen, um mich zu verbessern.

Was Sie zum Runterkommen spiele, ist eine andere Musik, als die, die Sie selbst machen? Mehr Richtung Klassik oder Jazz?

Generell ist mein Musikgeschmack sehr breit. Weniger Rock oder Schlager, aber viel Klassik, 50er, Hiphop. So ist das auch, wenn ich Klavier spiele. Mal spiele ich ein altes Stück, mal ein modernes, ich will mich auch nicht festlegen.

Ich habe auf YouTube zwei Stücke von Ihnen gefunden, „Nie genug“ und „Zeit“. Bei letzterem war mein Eindruck: Wie Cro ohne Maske.

(guckt erstaunt)

Das soll jetzt nicht als Beleidigung rüberkommen…

(lacht) Das ist mein Vorbild, deswegen fühl‘ ich mich gerade wirklich geehrt.

Auch thematisch gibt es Parallelen: Es geht ums Chillen und „Komm, Mädel, wir fliegen nach Hawaii und machen was wir wollen“. Ist das so einfach Fun oder eine Botschaft, oder eine Einstellung, die Ihrem Alter entspringt?

Also, es ist so, dass jeder Song eine andere Bedeutung hat. Wenn man „Zeit“ mit „Nie genug“ vergleicht, kann man sehen, das „Zeit“ auf diesen Vibe geht, die Zeit zu genießen und Spaß zu haben. Und „Nie genug“ ist eher schon etwas aus meinem Leben. Wenn man den Text hört und dann an Fußballthemen denkt, versteht man das.

„Heute fahr ich schnell, gestern ging ich noch zu Fuß“ – bei manchem Verkehrsteilnehmer ist die Reihenfolge umgekehrt: Gestern fuhr ich schnell, heute gehe ich zu Fuß.

(lacht) Ja, aber da kann man zum Beispiel interpretieren: Kann er sich im Gegensatz zu früher heute ein Auto leisten?

In die Richtung ging einer meiner ersten Gedanken.

Aber das geht noch viel weiter. Also: Früher war ich noch ein ganz Kleiner, heute spiele ich zum Glück in der Bundesliga, und das ist noch nicht das Ende. Das heißt, ich bin auf der Überholspur und will noch weiter vorankommen. Jedes Stück hat eine Bedeutung, manchmal geht es halt ums Chillen, aber meistens ist das schon mit einer Geschichte verbunden. Diejenigen, die mich persönlich kennen, wissen dann genau, worum es geht, und die anderen haben viel Interpretationsspielraum und können hineininterpretieren, was sie wollen. Weil ich alle meine Texte selbst schreiben, ist es kein kopfloses Erzählen, sondern es steckt etwas dahinter.

Sie haben ein paar Stücke auf Halde liegen, die Sie erst veröffentlichen wollen, wenn Sie es als Fußballer geschafft haben. Ab wann haben Sie es geschafft?

Wenn ich mir denke, jetzt fühlt sich ein Zeitpunkt gut an, und es kommt draußen nicht blöd an. Ich habe etwas Neues, Cooles gemacht, auf das ich Lust hätte, das auch zum Wetter passt. Aber ich bin jetzt gerade bei einem neuen Verein in der Vorbereitung. Die Leute würden vielleicht nicht verstehen, dass ich das Stück nicht gerade jetzt, sondern schon vor längerer Zeit geschrieben habe. Da versuche ich die Balance zu finden, das ist sehr schwierig.

Klar, zwei Fehlpässe, und schon sind Sie der Typ, der im Trainingslager Musik schreibt, statt sich auf den Fußball zu konzentrieren.

Genau. Obwohl ich das Lied vor drei Monaten geschrieben habe. Das finde ich schade. Am liebsten würde ich mein Leben in den Fußball investieren und nebenbei die Musik rausbringen, die ich schon vor Jahren geschrieben habe, aber leider ist das nicht so einfach.

Spielen auch politische oder gesellschaftspolitische Themen eine Rolle in Ihren Stücken?

Nicht so sehr, also nicht so, dass ich jemanden in eine Richtung schicken will, ich will auch keinen offensiv angehen. Niemand soll sich angegriffen fühlen, jeder soll sich ein Stück nehmen können, mit dem er sich identifizieren kann, in dem sich vielleicht sein eigenes Leben widerspiegelt. Ich find es schön, wenn ich eine Geschichte erzähle und andere mir sagen, dass sie dazu auch was aus ihrem Leben erzählen können. Das ist mir wichtig.

 

Das Gespräch führte Peter H. Eisenhuth.

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