Eva Willwacher | 20.03.14

Ein Stück Normalität

Das „Team Barrierefrei“ betreut behinderte Fans des FSV Mainz 05 auf Auswärtsfahrten. SPORTAUSMAINZ.de-Mitarbeiterin Eva Willwacher begleitete die Gruppe auf dem Weg zur Partie bei der TSG Hoffenheim.
Mit einer eigens eingebauten Hebevorrichtung hievt Busunternehmer Johannes Fischer die Rollis (in diesem Fall: Jürgen Keil)  in den Bus.
Mit einer eigens eingebauten Hebevorrichtung hievt Busunternehmer Johannes Fischer die Rollis (in diesem Fall: Jürgen Keil) in den Bus. | Eva Willwacher
Die Rollstühle werden im Gepäckfach verstaut.
Die Rollstühle werden im Gepäckfach verstaut. | Eva Willwacher
„Wir Augenmenschen sehen viel mehr“, sagt der gehörlose 05-Fan Stefan Bauer.
„Wir Augenmenschen sehen viel mehr“, sagt der gehörlose 05-Fan Stefan Bauer. | Eva Willwacher
Und dauert die Fahrt auch noch so lang: Bei Beate Trautmann, der 05-Behindertenbeauftragten, muss niemand darben.
Und dauert die Fahrt auch noch so lang: Bei Beate Trautmann, der 05-Behindertenbeauftragten, muss niemand darben. | Eva Willwacher
Wissen noch nicht, welches irre Spiel sie gleich erwartet: Joachim und Johanna Huth.
Wissen noch nicht, welches irre Spiel sie gleich erwartet: Joachim und Johanna Huth. | Eva Willwacher
So sicher Johannes Fischer („Der Zwingenberger“) seine Passagiere in den Bus gehoben hat, so sicher setzt er sie auch wieder draußen ab.
So sicher Johannes Fischer („Der Zwingenberger“) seine Passagiere in den Bus gehoben hat, so sicher setzt er sie auch wieder draußen ab. | Eva Willwacher
Zwei Helfer aus einem starken Team: Lothar Geier und Beate Trautmann.
Zwei Helfer aus einem starken Team: Lothar Geier und Beate Trautmann. | Eva Willwacher
Eintracht war früher, heute ist 05: die alten Kumpels Friedel Rendel und Jürgen Keil.
Eintracht war früher, heute ist 05: die alten Kumpels Friedel Rendel und Jürgen Keil. | Eva Willwacher
Letzte Vorbereitungen vor dem Triumph: In gut einer Stunde werden sie Zeugen eines 4:2-Auswärtssieges.
Letzte Vorbereitungen vor dem Triumph: In gut einer Stunde werden sie Zeugen eines 4:2-Auswärtssieges. | Eva Willwacher

Mainz. Jürgen Keil sitzt im Rollstuhl. Stefan Bauer ist gehörlos. Lothar Geier stieß einst, schwerkrank aus dem Krankenhausbett geflohen, zur Gruppe und ist als Betreuer geblieben. Sie und andere einen zwei Dinge: Alle sind Fans des FSV Mainz 05. Und alle fahren, wann immer es möglich ist, gemeinsam zu den Auswärtsspielen des Bundesligisten.

Wenn sie sich vor den Fahrten nach München, Gelsenkirchen oder zuletzt Sinsheim auf dem Parkplatz am Bruchweg treffen, müssen sie sich mindestens eine halbe Stunde früher treffen als andere Fanclubs. Es dauert eine Weile, bis alle Rollis mit einer speziellen Hebebühne durch die hintere Tür in den Bus gehievt worden sind. Aber Stress macht hier niemand. „Wer bei uns mitfährt, weiß, was ihn erwartet“, sagt Joachim Huth vom „Team Barrierefrei“, das sich um die behinderten 05-Fans kümmert.

Seit 47 Jahren gemeinsam ins Stadion

Keinen Stress machen – das gilt selbst, wenn Jürgen Keil und Friedel Rendel die dunklen Geheimnisse ihrer Vergangenheit offenbaren. Die beiden kennen sich seit 1967, haben gemeinsam die Berufsfachschule und anschließend bei Opel in Rüsselsheim eine Ausbildung zum Maschinenschlosser absolviert. Gemeinsam ins Stadion gehen sie seit 47 Jahren, aber: „Wir waren früher in Frankfurt gewesen“, sagt Rendel. Hä? „Wir WAAREN. FRÜÜHER“, stellt er klar und zeigt auf Jürgen Keil: „Aber er ist dann irgendwann umgestiegen…“

2009 war das, nach der Rückkehr der 05er in die Bundesliga. „Da bin ich zum Fan geworden“, erzählt Keil, „inzwischen sind wir auch Mitglied.“ Dauerkartenbesitzer sowieso, „und wenn’s geht, nehmen wir auch die Auswärtsspiele mit.“

„Wir werden bevorzugt behandelt“

Bei den Auswärtsfahrten ist Friedel Rendel nicht nur als Freund, sondern auch als Betreuer dabei. Jürgen Keil erhielt vor 16 Jahren die Diagnose, an Spinobulbärer Muskelatrophie, Typ Kennedy, zu leiden – einer Erbkrankheit, die die Betroffenen früher oder später in den Rollstuhl zwingt. Als Rolli hat der 60-Jährige in den Stadien der Republik fast durchweg positive Erfahrungen gemacht. „Behindertengerecht sind inzwischen eigentlich alle“, sagt Keil, „und wir werden sogar bevorzugt behandelt.“

Blinde 05-Fans sind an diesem Tag nicht im Bus. „Einer, der fast immer dabei war, der Heinz, ist inzwischen leider verstorben“, erzählt Huth und räumt ein: „Ich habe mich anfangs auch gefragt, warum Blinde ins Stadion gehen.“ Die Antwort erhielt er durch seine ehrenamtliche Tätigkeit. „Viele waren ja nicht immer blind. Der Heinz zum Beispiel war früher LKW-Fahrer, hatte Diabetes, aber hat die Krankheit nicht ernstgenommen.“ Bis zum Verlust des Augenlichtes. „Aber er war vorher ein Stadiongänger, und darauf wollte er auch nach der Erblindung nicht verzichten“, sagt Huth. „Dem brauchte man auch nichts zu erklären. Wenn ich dem gesagt habe, wir sind jetzt bei Kilometer X auf der Autobahn, wusste er, was die nächste Ausfahrt ist. Als ehemaliger Fernfahrer kannte der sich aus – und genauso war das im Stadion.“

Stadion statt Selbsthilfegruppe

Für viele Behinderte stelle der Stadionbesuch ein Stück Normalität dar. Klar, sagt Huth, „ich kann in eine Selbsthilfegruppe gehen, aber da dreht sich alles nur um ein Thema. Hier werden die Leute dagegen als Normale unter Normalen akzeptiert und als solche behandelt. Dass sie ein Handicap haben, ist nebensächlich. Im Vordergrund steht das gemeinsame Interesse, darüber kann man endlos reden, man kann sich freuen oder traurig sein, aber die Behinderung tritt vollkommen in den Hintergrund. Man hat Ablenkung, man ist mitten im Geschehen, man ist akzeptiert. Man ist auf Augenhöhe.“

Als „Augenmenschen“ bezeichnet Stefan Bauer sich und die anderen 35 Mitglieder des Fanclubs „deafmainz05“. „Deaf“ ist englisch und heißt „taub“. Bauer, von Geburt an gehörlos, liest seinen Gesprächspartnern von den Lippen ab.  „Die Stimmung im Stadion spüre ich durch Vibrationen und indem ich die anderen Fans beobachte“, erzählt er. „Wir Augenmenschen, wir sehen viel mehr.“

Seit 1993 ist Bauer, der als Koch auf dem Campingplatz in Bingen arbeitet („Mit Blick auf den Rhein“) Fan der 05er. „Mainz ist meine Heimat, und der Verein ist sympathisch, weil er locker, familiär und spannend ist“, sagt der 30-Jährige mit Sitzplatz im E-Block. Sein schönstes Erlebnis: „Der Bundesligaaufstieg 2004“.

Begleitpersonen sind in der Regel dabei

Der Gehörlose ist einer von 15 behinderten Fans auf dem Weg nach Sinsheim, in der Regel ist immer eine Begleitperson dabei. „Für den Fall, dass etwas passiert, muss jemand im Bus sein, der weiß, was los ist“, erklärt Beate Trautmann. Der Ernstfall tritt selten ein, doch an ein Erlebnis kann sie sich erinnern: „In Kaiserslautern ist es einmal vorgekommen, dass ein Zuckerkranker einen Anfall hatte. Ohne die Begleitperson wären wir da ratlos gewesen.“

Trautmann ist die neue Behindertenbeauftragte des FSV Mainz 05, als Nachfolgerin des im Januar verstorbenen Axel Feldmeier übernommen. „Sein Tod hat uns alle schockiert“, sagt sie. „Ich hatte aber das Glück, zehn Jahre lang an seiner Seite arbeiten zu dürfen.“

Die Mitarbeiter und Helfer des „Teams Barrierefrei“ sind auf unterschiedlichen Wegen zu diesem Ehrenamt gekommen – den kuriosesten hatte sicherlich Lothar Geier gewählt. An einem Heimspieltag der 05er „lag ich schwerkrank in der Uniklinik“, erinnert er sich, „aber ich wollte dieses Spiel unbedingt sehen“. Und daran konnten ihn weder Kanülen noch Pflegekräfte hindern: Geier entledigte sich aller Schläuche, stand auf, kleidete sich an und machte sich auf den Weg ins Stadion.

Vom Krankenbett ins Helferteam

Eine Eintrittskarte hatte er zwar gerade nicht in der Tasche. „Aber ich habe mich zum Team durchgefragt, bekam von denen noch ein Ticket und konnte mich zu ihnen setzen“, sagt der heute 67-Jährige. „Als ich das Krankenhaus später offiziell verlassen durfte, habe ich als Helfer im Team angefangen.“

Und in welchen Stadien gefällt es den behinderten 05-Fans am besten? Da liegt die heimische Coface-Arena an der Spitze (allerdings nur, weil am Bruchweg keine Bundesligaspiele mehr stattfinden). Auswärts präferiert Stefan Bauer die Münchener Allianz-Arena – „dort herrscht eine gigantische Atmosphäre“.

Unterm Strich kommen alle Arenen ganz gut weg. Wobei: „In Frankfurt ist ein einziger Mann für 110 Rollifahrer zuständig“, merkt Jürgen Keil an. „In Mainz haben wir dafür 17 Leute.“ Ganz gut, dass sich der einstige Eintracht-Dauergast längst den 05ern zugewandt hat… wil/phe

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